Das Abstellgleis - Stefan Grabiński

Buchcover
Autor
Stefan Grabiński
Titel
Das Abstellgleis und andere Erzählungen
Ausgabe
Suhrkamp 1978, 300 Seiten
Sprache
Deutsche Übersetzung von Klaus Staemmler, Originalsprache: Polnisch

Als ich die Kurzgeschichtensammlung Das Abstellgleis von Stefan Grabiński in einem Antiquariat in Schweinfurt in den Händen hielt, hatte ich noch nie von diesem Autor gehört. Bei einem Kaufpreis von 3 € kann man allerdings nicht viel falsch machen und der Klappentext las sich schon einmal interessant an: wir erfahren, dass Stefan Grabiński (* 1887, † 1936) ein polnischer Gymnasiallehrer in Lwów/Lwiw/Lemberg und Autor fantastischer Kurzgeschichten und Romane war, der “wie Lovecraft” einsame, verschrobene Außenseiter-Protagonisten einer unerkennbaren, bedrohlichen Welt und einem unentrinnbaren Schicksal gegenüberstellt.

Nachdem ich das Buch gekauft und gelesen hatte, informierten mich außerdem das Nachwort - von keinem Geringeren als Stanisław Lem geschrieben - und die englischsprachige Wikipedia, dass Grabiński, von Kindheit an kränklich, zurückgezogen und veträumt, ein starkes Interesse an Parapsychologie, Okkultismus, Dämonologie und östlicher wie christlicher Mystik hatte und oftmals als “der polnische [Edgar Allan] Poe” angesehen wird. Diesen Vergleich halte ich für passender, als den mit Lovecraft. Wenn man mich gefragt hätte, an wen mich die Geschichten und der Stil Grabińskis am meisten erinnnern, hätte ich persönlich Algernon Blackwood genannt.

Themen

“Plötzlich schien es Boroń, als hörte er nackte Füße über den Boden des Korridors schreiten. […] Der Schaffner wusste schon, was das bedeutete; nicht zum ersten Mal hörte er diese Schritte im Zug. Er beugte den Kopf vor und blickte durch den nur halberhellten Wagen. […] nur für eine Sekunde gewahrte er seinen gekrümmten, schweißtriefenden Körper. Boroń erbebte: der Schmutzkerl war wieder im Zug erschienen.” ~ Der Schmutzkerl (Smoluch)

Die genannten Autoren, ebenso wie die Interessen Grabińskis, machen klar, wohin die Reise geht: in der vorliegenden Kurzgeschichtensammlung erleben wir den Einbruch von merkwürdigen, übernatürlichen Phänomenen in die scheinbar geordnete moderne Welt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Seltsame Vorahnungen, manische Obsessionen und persönlichkeitsverändernde Stimmungen bemächtigen sich der Protagonisten, unheimliche Erscheinungen werden gesichtet, seltsame Wesen leben versteckt in verlassenen Fabrikgebäuden, der Wurf der Schatten zeichnet Nacht für Nacht eine detaillierte Mordszene auf einen weißen Vorhang und einsame Hütten im Wald verheißen nichts Gutes.

Gleiches scheint auch für Frauen zu gelten. Es fällt auf, dass gerade einmal drei positiv dargestellte weibliche Figuren (wovon zwei zum Zeitpunkt der Handlung bereits verstorben sind und vom Protagonisten verklärt werden) in den Kurzgeschichten zu finden sind. Alle anderen Frauen in Grabińskis Geschichten treten dagegen entweder direkt als dämonisch-zerstörerische Kräfte auf, oder sind zumindest derart verkommen, dass ihr amoralischer Einfluss den männlichen Protagonisten (der sich allerdings meist auch mehr als empfänglich dafür zeigt) auf seinen Weg ins Verderben führt. Tatsächlich herrscht in einigen der Kurzgeschichten eine merkwürdige Atmosphäre von unheilvoll-bedrohlicher Erotik, teils mit expliziten Passagen.

Die Kurzgeschichten im vorliegenden Band lassen sich in drei Gruppen mit jeweils eigener Thematik unterteilen:

  1. Eisenbahngeschichten: die Faszination an rasender Geschwindigkeit, dem Durchbrechen von Raum und Zeit, dem Überwinden großer Weiten und enger, vorgegebener Schienen bilden hier den Kern. Die Protagonisten verfallen entweder einer (oder aller) dieser Faszinationen, werden mit einer ihrer Manifestationen konfrontiert, oder erleben die Eisenbahn als eine eigene Welt, von der “normalen” abgesondert, wo sie ein anderes Leben leben können oder aber in einen anderen Bewusstseinszustand verfallen oder eine andere Persönlichkeit annehmen.
  2. Feuergeschichten: meiner Meinung nach die schwächsten Geschichten in der Sammlung, hier tritt das Element Feuer mit bedingungslosem Zerstörungswillen auf und übernimmt nach und nach Besitz von Menschen, die mit einer Faszination für Flammen und Brände geboren wurden, oder das Element herausfordern. Am gelungensten, wenn auch vorhersehbar, ist hier “Die Feuerstätte” (Pożarowisko), die durch die Art, wie das unbekümmert-entrückte, von den Protagonisten selbst unbemerkte Abgleiten in die Pyromanie gezeichent wird, doch Eindruck macht.
  3. Parapsychologische Geschichten: gewissermaßen die “Klassiker”, was die Themen angeht: Hypnose, böse Doppelgänger, dämonische Wesen und geisterhafte Erscheinungen, Telepathie und Energievampirismus, teilweise mit einer psychologischen Komponente. Für mich die besten und wirkungsvollsten Geschichten des Bandes.

Schreibstil und Wirkung

“Vom Sommerhauch gewiegte zarte Weidengerten beweinten an der Mauer das traurige Menschenlos. Ein geduckter Schatten schob sich an der Wand entlang, reckte sich auf, wurde immer länger und verschwand dann im Garten. Trugbilder huschten über die Wand, von der Kalk abgefallen war. Sie erkannten mich von Weitem und riefen mich mit Zeichen herbei. Sie bewegten klappernd ihre riesigen Kinnladen, krümmten die Sperberklauen ihrer zottligen Hände oder liefen voraus und spornten mich zur Nachahmung an - böse, kichernd, unangreifbar…” ~ Auf der Spur (Na tropie)

In den meisten Geschichten herrscht eine dichte Atmosphäre, Grabiński versteht es, Spannung und eine unheilvolle, teils ins surreale neigende Stimmung zu erzeugen. Sein Schreibstil ist klar und recht nüchtern, er verliert sich nicht in Abschweifungen oder theatralischer Übertreibung. Dazu sei allerdings am Ende der Besprechung noch etwas gesagt.

Seine Charaktere bleiben aber mehrheitlich eher oberflächlich. Komplexere Haupt- und Nebenfiguren mit psychologischem Tiefgang oder faszinierender Persönlichkeit wird man in den hier vorliegenden Kurzgeschichten nicht finden. Wenn auch einige Protagonisten in ihrer Monomanie interessante Züge gewinnen können. Bestes Beispiel ist hier der Lokführer Grot in der gleichnamigen Geschichte (Maszynista Grot).

Man muss auch ganz klar sagen, dass die Qualität der Geschichten in dieser Sammlung schwankt. Manche haben mich mit einem Gefühl, das ich am ehesten als “Ja und?” beschreiben würde, zurückgelassen. Andere wirken, zumindest auf mich, etwas zu konstruiert und bemüht. Und nicht selten kann man den vermeintlich “überraschenden Plot-Twist” schon meilenweit vorher kommen sehen.

Das kann einigen Geschichten stark ihren Reiz nehmen, muss es aber nicht zwangsläufig bei allen. Einige der betroffenen Geschichten wirken, obwohl des Rätsels Lösung fast von Anfang an offensichtlich ist, wegen ihrer dichten, mysteriösen und surrealen Atmosphäre und der sich aufbauenden bedrohlichen Spannung dennoch eindrucksvoll auf den Leser.

Persönliche Bestenliste

“Ich zog langsam aus meiner Krawatte die Nadel mit dem Opal und stieß sie in ihren nackten Fuß. Blut spritzte, ein Schrei ertönte - aber aus meiner Brust: im gleichen Augenblick spürte ich in meinem Fuß einen heftigen Schmerz. Jadwiga schaute mit seltsamem Lächeln auf das Blut, das in großen rubinroten Tropfen aus ihrer Wunde sickerte. Kein Wort der Klage kam aus ihrem Munde…” ~ Szamotas Geliebte (Kochanka Szamoty)

Das trifft auch auf zwei der drei Geschichten zu, die in meinen Augen die besten aus dieser Sammlung sind, trotz der Offensichtlichkeit ihres “Geheimnis”. Meine Favoriten stammen allesamt aus der dritten der oben geschilderten Gruppen:

  • Dunst (Czad): Ein Ingenieur verirrt sich heillos in einem Schneesturm, bis er am Wegesrand eine einsame und baufällige Herberge entdeckt. Dort bewirten ihn ein lüsterner, zudringlicher alter Mann und eine ebenfalls laszive junge Frau. Die seltsamerweise nie beide zur gleichen Zeit im selben Raum sind.
  • Der Rabe (Kruk): bereits der Titel lässt erahnen, dass es sich hier um die “Poe-ähnlichste” Geschichte handelt. Ein junger Mann fühlt sich unwiderstehlich zum zufällig entdeckten Grab einer ihm vollkommen unbekannten Frau hingezogen. Allerdings scheint das Grab von einem Raben bewacht zu werden, der über die Besuche nicht erfreut ist.
  • Szamotas Geliebte (Kochanka Szamoty): Nachdem der Protagonist jahrelang von einer ebenso glühenden, wie unerfüllten heimlichen Leidenschaft für die Stadtschönheit verzehrt wurde, scheinen sich seine wildesten Träume zu erfüllen: die Begehrte, von einer langen Auslandsreise zurückgekehrt, lädt Szamota brieflich und in eindeutiger Absicht zu sich ein. Allerdings empfängt sie ihn immer nur nachts, in ihrem scheinbar leerstehenden Haus, abgedunkelten Schlafzimmer und unter völligem Schweigen.

Abschließende Bewertung

“Während seine Frau Józio im Salon Klavierunterricht gab, beschloß Rojecki, ihnen einen ›Überraschung‹ zu bereiten. Leise, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, stahl er sich mit einer Flasche Spiritus in das Schlafzimmer und goß ihren gesamten Inhalt auf eines der Kissen. Dann zündete er es an.” ~ Die Feuerstätte (Pożarowisko)

An die anfangs genannten, sich als Vergleiche aufdrängenden Schriftsteller - Lovecraft, Poe, Blackwood - kann Grabiński für mich nicht heranreichen. Ihre Werken sind vielschichtiger und reicher an Tiefgang, Raffinesse, Komplexität und bizarrer Kreativität. Das soll aber nicht heißen, dass Grabiński nichts zu bieten hat, nur weil er von den Großmeistern dieses Genres übertroffen wird.

Grabiński hat seinen eigene Stil und eindeutig seinen eigenen Reiz. Ich habe seine Kurzgeschichten, bis auf einige Ausreißer, mit Genuss und Spannung gelesen und mich gut unterhalten gefühlt. Wenn sich mir die Gelegenheit bietet, weitere Werke von diesem Autor zu lesen, werde ich auf jeden Fall zugreifen.

Dazu allerdings zwei Anmerkungen: Grabiński hat auch Romane verfasst, in seinem Nachwort bezeichnet Stanisław Lem diese allerdings als “leider unlesbar geworden”, da Grabiński diese zum einen als eine Bühne zur Selbstdarstellung seiner Gelehrtheit und Belesenheit in okkulten Themen missbrauchen (und damit scheinbar recht langweilen) würde, zum anderen ausgesprochen oberflächliche, schablonenhafte Schwarz-Weiß Handlungen und Protagonisten darbieten würde. Das kann ich nicht beurteilen und persönlich würde ich mich von diesem Urteil Lems nicht abschrecken lassen, sondern die Romane von Grabiński, sollten sie mir in die Hände fallen, dennoch zumindest anlesen.

Die zweite Anmerkung betrifft meine Ausgabe vom Suhrkamp Verlag aus dem Jahr 1978: diese Ausgabe kann ich definitiv nicht empfehlen! In der abschließenden Anmerkung des Übersetzers erfährt der Leser nämlich, dass sich die deutsche Übersetzung vieler Geschichten dieser Ausgabe nicht nur auf eine bereits stark gekürzte und ohne Zustimmung des Autors posthum bearbeitete polnische Ausgabe stützt, sondern dass der deutsche Übersetzer zusätzlich andere Texte ebenfalls eigenmächtig weiter gekürzt hat!

Ich habe weiter oben erwähnt, dass Grabińskis Stil nicht ab- oder ausschweifend ist. Was das angeht, wird als Grund für die Kürzungen jedoch angegeben, dass sich sowohl der Herausgeber der polnischen Ausgabe, als auch der deutsche Übersetzer darin einig sind, dass Grabiński zu ebenso ausschweifenden wie lyrischen Naturbeschreibungen neigt, die nichts mit der Handlung zu tun hätten und nichts zur Atmosphäre beitragen, ja diese im Gegenteil sogar zerstören und die Geschichte ins gänzlich Lächerliche ziehen würden.

Dem mag so sein. Auch das kann ich nicht beurteilen - und das ist genau der Punkt, der mich hier so stört: diese Beurteilung sollte dem Leser überlassen werden! Anstatt mir die Möglichkeit zu lassen, zu meinem eigenen Urteil diesbezüglich zu kommen, haben der polnische Herausgeber und der deutsche Übersetzer vorauseilend und “nur zu meinem Besten” Verfälschungen am Werk eines verstorbenen Autors vorgenommen, der sich dagegen nicht mehr wehren konnte.

Sowohl dieser Aspekt, diese Anmaßung und Respektlosigkeit gegenüber dem Autor, als auch die Respektlosigkeit gegenüber dem Leser, diese aufdringliche, unerbetene Bevormundung des Lesers, empfinde ich als enorme Frechheit. Wenn ich die Werke eines Autors lese, sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass ich sie so zu lesen bekomme, wie sie vom Autor intendiert waren und zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden, mit seiner Zustimmung, was Bearbeitungen angeht.

Das Urteil, was am Werk eines Autors überflüssig, abschweifend, antiklimaktisch und/oder lächerlich ist, sollte den jeweiligen Lesern überlassen bleiben, die erstens diesbezüglich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen kommen werden und zweitens eben darauf erst zu ihrer persönlichen Bewertung eines Autors und seines Werks gelangen können.

Wer meint, es besser zu wissen und zu können als ein Autor, dem empfehle ich dringend, seine eigenen Werke zu schreiben, anstatt sich “in wohlmeinender Absicht” an den Werken anderer zu vergehen und diese “zu verbessern”. Also: Grabiński - zu empfehlen. Diese gekürzte Ausgabe - nicht zu empfehlen.